Kunst in allen Disziplinen zur Erschaffung des sogenannten „Gesamtkunstwerks“: Das war das Ziel der Wiener Werkstätte, eines Künstlerkollektivs rund um Koloman Moser, das am Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie, der Zeit des Fin de Siècle, den Höhepunkt seiner Schaffenskraft erreichte. Im Dunstkreis dieser findigen Kreativlinge befand sich auch der Jugendstilarchitekt Otto Wagner, der in seinen Gebäuden das Konzept des „Gesamtkunstwerks“, auf Englisch „Total Work of Art“ genannt von der Fassade über das Stiegenhaus bis hin zum Lokus zur Anwendung brachte. Kunst war in unserer großen Vergangenheit, quer durch alle Stile und Epochen, stets ein Thema. Die Gebäude, die visionäre Baumeister vor unserer Zeit realisierten, prägen das allgemeine Österreichbild in Werbeprospekten und im Internet. Sie sind Wahrzeichen und Sehenswürdigkeiten und fügen sich oft harmonisch in das Bild der Landschaft, auf die wir Österreicher ja so stolz sind, ein. Doch ebendiese Landschaft ist in Gefahr. Wir verschandeln unsere Umgebung nämlich in vielerlei Hinsicht. Zunehmend berauschen wir uns nur noch an schönen Insta-Bildern, weil wir die Brennweite in der realen Welt immer kleiner stellen müssen, um die Hässlichkeiten im Umkreis nicht zu sehen.

Verlässt man nämlich dieser Tage, geleitet von zahlreichen Überkopfschildern, die Hauptverkehrsadern dieses Landes und biegt in eine beliebige Bezirkshauptstadt ein, so fällt die Sichtachse auf eine Ausgeburt an Scheußlichkeiten. Fachmarktzentren, Einkaufstempel und Betonburgen soweit das Auge reicht. Die Wegwerfarchitektur der in die Landschaft gestellten Schuhschachteln, vom „Wirt zum goldenen M“ bis zum schwedischen Vornamen-Möbelhaus dominiert jede Ankunft in österreichischen Zentralorten. Bunt, knallig und überreizt stehen die kantigen Ungetüme an den Ein- und Ausfallstraßen jeder größeren Gemeinde, gipfelnd in dem überdimensionierten blutig roten Stuhl des bekannten Möbelgiganten, der mit Familienglück wirbt. Bauliche Exkremente. Total Work of Fart.

Eine Ursache für dieses Grauen ist, neben dem absoluten Diktat der Wirtschaftlichkeit, auch die Errichtung von Umfahrungsstraßen, um das Zentrum von Orten verkehrstechnisch zu entlasten. Mit dem Verkehr erschafft man sich jedoch einen neuen Transitraum, an den sich das Geschehen verlagert, der jedoch auch nicht gerade zum Verweilen einlädt. Nutzgetriebene Zweckbauten, Ansammlungen von Konsumtempeln, beton- und stahlgewordene Erektionen, deren Formensprache Marke „Sondermüll“ den Wandel der Kulturnation Österreich vollzieht. Die Pandemie hat den Kulturwandel nur noch beschleunigt: Kreativität und Muse müssen dem Konsum weichen. Wir kaufen, also sind wir.
Ein weiterer Nebeneffekt der sündhaft teuren Asphaltringe um jedes noch so kleine Kaff, den lärm- und abgasgeplagte Bürger bei den Forderungen danach nicht bedenken: der Ortskern stirbt. Nach und nach verlagern Nahversorger, Bäcker, ja sogar Friseure ihre Geschäftslokale in die Peripherie und hinterlassen produktleere Schaufenster und menschenleere Plätze, auf denen von regionalen Künstlern designte, einem Felssturz gleichende Steinskulpturen ihr trauriges Dasein fristen. Ebbe statt Flut. Die Ansiedlung von Discountern oder Supermärkten, in Österreich nicht gerade eine aussterbende Spezies, wird von Lokalpolitikern mit dem Hinweis auf acht unterbezahlte Teilzeitarbeitsplätze goutiert. Die Halbwertszeit einer politischen Karriere ist ungleich kürzer als die Anmutung der durch ihre Entscheidungen mitgeprägten Landschaft. Im Gegensatz zu digitalen Herausforderungen lässt sich Bodenversiegelung nicht durch findige Programmierer in relativ kurzer Zeit rückgängig machen. Sehr belebt wirken bloß die nachgebauten Retorten-Dorfplätze von Designer-Outlet-Centern wie jenem in Parndorf, dem Himmel für konsumgeile Österreich-Touristen. Seelenlose Konsumtempel nach dem Vorbild florierenden sozialen Lebens – nur ohne soziales Leben, weil einwohnerfrei. Sie sind die Sinnbilder der Wohlstandsverwahrlosung.

Das Einfamilienhaus, der feuchte Traum der Jungfamilie, ist besonders in Kärnten ein gestalterischer Wildwuchs an Pseudo-Toskana-Bauten, bei denen nie die Frage nach Anmutung und Schönheit gestellt wurde. So wie man sich einst beim Bundesheer von der Rasur befreien lassen konnte, ist anscheinend eine Ästhetikbefreiung Beifang nahezu jeder Bauverhandlung. Landwirte werden aufgrund sinkender Lebensmittelpreise bei steigenden Lebenserhaltungskosten dazu gezwungen, Ackerflächen zu verkaufen. Nach deren Erschließung beginnt die Bodenversiegelung, europaweit eine Spitzendisziplin des Homo Austriacus. Das Landleben selbst verkommt dann häufig zur parzellierten Swimmingpoolansammlung. Abgerundet werden die exakt abgegrenzten Territorien mit der Heiligen Dreifaltigkeit des österreichischen Spießertums: Thujen, Waschbetonplatten, Maschendrahtzaun. Der Hobby-Spion verbarrikadiert sein unförmiges Niedrigenergieschloss noch zusätzlich mit hochauflösenden Überwachungskameras und signalisiert dies dem potenziellen Eindringling mit dem Wachdienst-Pickerl auf dem Postkasten. Eigenheimfestung auf dem höchsten Niveau. Hauptsache, Grill, Trampolin und Rattangarnitur sind instagrammable. Das Gemälde namens Landschaft wird nach und nach übermalt. Die glitzernden Solarpanele am Dach können die beiden VW-Diesel, die jeden Tag viele Kilometer zum Dienstort zurücklegen, nicht mehr wettmachen. Sie dienen, wenn überhaupt, dem Wiederaufbau des entschwundenen ökologischen Gewissens.
Die anfangs zitierte Wiener Werkstätte vertrat die Ansicht, dass Kunst und schöne Dinge die Moral und jedes Individuum positiv beeinflussen. So wird jeder zu einem besseren Menschen. Heute sind wir mit unserer Baukultur, einem gebäudegewordenen Stückwerk unter dem Diktat der Wirtschaftlichkeit, oft weit von diesem Ansatz entfernt. Wir bauen, so wie wir leben: zweckmäßiger, schneller, effizienter – und vor allem weit über unsere Ressourcen hinaus. Die Baukultur wird zunehmend zu einem Psychogramm des Bösen. Der Lustwandler und Müßiggänger, dessen hedonistischer Lebensansatz so manchem von Zeit zu Zeit gut tun würde, findet so wie Flora und Fauna immer weniger Open Space. Niemand nutzt einen Transitraum am Südring in Klagenfurt oder der Wiener Straße in Graz für seine Musestunden. Der „Genius Loci“, der Geist des Ortes, kommt dabei vollkommen abhanden. Wenn wir im gestalteten Raum die Zeit lesen, wie der deutsche Philosoph Karl Schlögel einst behauptete, dann passiert diese Lektüre momentan im Zeitraffer. Denn: ein Haus, das den Boden versiegelt, ist kein Konsumgut wie jedes andere. Es prägt die Umgebung nachhaltig. Darum: Lassen wir nicht zu, dass die Umgebung von baulichen Fürzen dominiert wird und vermehren wir wieder Schönes! Beispiele dafür gibt es auch in Österreich zuhauf, man blicke nur in Bregenzerwald oder Lungau. Denn Ästhetik tut sowohl uns als auch unserer Seele gut.