Der Text als Podcast zum Nachhören:
Klagenfurt am Wörthersee ist statistisch gesehen die sechstgrößte Ortschaft im geologischen Spektakel, das sich Österreich nennt und zählt nunmehr hauchdünn über 100.000 Seelen. Klagenfurt: Zu groß, um sich Dorf zu nennen, zu klein, um schon wirklich als Stadt identifiziert zu werden. Die Landeshauptstadt ist jedoch in vielerlei Hinsicht sehr speziell, besonders wenn man sich dem alltäglichen Wahnsinn annähern möchte. Vielleicht beginnen wir mit einer der Ikonen der Stadt.
Wie kann man also nun eine Stadt begreifen, deren offizielles Wahrzeichen ein von einer griechischen Halbgottheit erschlagenes Ungetüm ist. Ich stelle mir die Geschichte so vor: Der Lindwurm (welcher ja eigentlich eher ein Wollnashorn war) fristete sein trauriges Dasein im nebligen Sumpf am Ostufer des Sees, der sich heute Waidmannsdorf nennt und in dem sich unter anderem die größte Bildungsinstitution des Landes befindet. Sein Speiseplan bestand aus jungfräulichen Mitbewohnerinnen aller Art, besonders auf zweibeinige hatte er es abgesehen. Mir ist es bis heute ein Rätsel, welche Indizien der eher weinerliche Drache zur Feststellung der Unbeflecktheit seiner Mahlzeit zu Rate zog. Eines Tages zog einer der bürgerlichen Klagenfurter Casanovas (also eher nicht Herkules) aus, um dem Treiben ein Garaus zu machen. Vielleicht wollt er auch nur alle Jungfrauen in Spe für sich. Obwohl die Statur des städtischen Energiebündels mit jener des in Stein gemeißelten Herkules wahrscheinlich recht wenig zu tun hatte, schaffte er es das überdimensionale Reptil (oder Säugetier) so lange zu malträtieren, bis dieses sich ergeben musste.

So steht der noch heute da am Neuen Platz, der Lindwurm, mit ständig vom Angst erfüllten Antlitz, weil ihm der idealisierte Muskel-Herkules in jedem Moment eines auf die Rübe geben wird. Bewertung in der inoffiziellen Maskottchen- und Wahrzeichen-Liga: na ja, eher dürftig, aber das Goldene Dachl ist auch nicht viel spektakulärer.
Weitere Ikonen der Stadt sind die scheinbar hochgeklappten und verstauten Gehsteige (für unsere zahlreichen bundesdeutschen Mitbewohner: Bürgersteige), deren Antlitz sich Jahr für Jahr nach Anbruch der Dunkelheit zeigt. Ausnahmen dieser besinnlichen Zeit sind sommerliche Akrobatikveranstaltungen, an denen scheinbar die gesamte Dorfbevölkerung mit Bierbechern in den Händen Feuerschluckern bei der Ausübung ihrer Arbeit zusieht. Der Umstand nennt sich „Altstadtzauber“ und ist für mich die weniger volkstümliche Antwort der Hauptstadt auf das folkloristische „Hum-Ta-Ta“ des Villacher Kirchtags, Kärntens größter Tracht-Gedenk-Veranstaltung, die jährlich in der zweitgrößten Gemeinde des Landes stattfindet.
Dass Klagenfurt eine Universitätsstadt ist, merkt man nur im Umkreis von 100 Metern rund um die, eh klar, Uni und durch ein vielen bekanntes „Image-Video“ (gebt mal auf YouTube „Campus am Wörthersee“ ein).

Denn die Kärntner bevölkern die Hochschulen in Wien und Graz (inklusive des dortigen Nachtlebens) und jene, die sich doch entschlossen haben, zwischen Europapark und Wörtherseestadion zu studieren, fahren, nachdem sie ihre prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen abgesessen haben, wieder zurück nach St. Andrä, Gurk oder Feistritz an der Drau. Das sorgt unter anderem dafür, dass es im Klagenfurter „Uni-Viertel“ nach der Sperrstunde beim Uni-Wirt eher bescheiden zugeht (mit Ausnahme einiger Keller-Parties im Mozartheim).
Und wenn dann doch eine der spärlichen Uni-Parties stattfindet, geht diese mit Anrainerbeschwerden einher, weil jene Klagenfurter Ureinwohner, die nahe der Uni (und damit auch am See) wohnen eher spießig als aufgeschlossen sind. Vielleicht hätte man die Hochschule in den 70er Jahren doch nicht schon von Anfang an „in den Sumpf“, also nach Waidmannsdorf setzen sollen (Zitat Egyd Gstättner), sondern zentrumsnäher. Ich kenne Studienkollegen aus dem deutschsprachigen Ausland, die in drei Jahren Bachelor zweimal den Lindwurm und viermal die City Arkaden gesehen haben, dafür täglich Uni-Wirt, Uni-Kebap und Uni-Pizzeria.

Der Lendhafen, eigentlich eine Location mit viel Potenzial für alternative Kultur, zeigt sich eher als Sommerresidenz der potentiellen Augustin-Verkäufer, die aufgrund der Kärntner „Laissez-Faire-Mentalität“ sogar zu faul zum Verkauf der Obdachlosenzeitung sind. Vielleicht ist dies aber auch nur so, weil dieser Literatur-Handel oft in den U-Bahnhöfen der Bundeshauptstadt geschieht und wir hier mangels potentieller Fahrgäste schlichtweg keine Underground Railway haben.

Die Klagenfurter Kulturszene spielt sich trotz namhafter Literaten wie Ingeborg Bachmann, Robert Musil oder Egyd Gstättner leider oft ziemlich unter der Wahrnehmungsgrenze ab und spricht kein hochkulturell interessiertes Massenpublikum an. Sogar etwas alternativere, aber dennoch bereits wohlbekannte Acts, die in Rest-Österreich (also alles außerhalb von Kärnten) Hallen und/oder Kneipen füllen, finden sich in Klagenfurt vor fünfzig Menschen mit Corona-Flaschen und Fertig-Misch-Hugos in den Händen wieder. Man könnte es positiv formulieren: Wir Klagenfurter machen halt nicht jeden Hype mit (außer er heißt Andrea Berg, die füllt nämlich wahrscheinlich 2019 das 32.000-Zuschauer-Stadion am Südring, kurz bevor ihre Bühne von der künstlichen Aufforstung eines Mischwaldes verdrängt wird).
Dann gibt es da noch die Sattnitz (eigentlich „Glanfurt“), ein Rinnsal, dass den Wörthersee in Richtung Ebenthal verlässt, das also quasi in die „Suburbs“ rinnt. Ebendieser Fluss lässt sich auch als „Gänsehäufel“ Klagenfurts bezeichnen, nur ohne Nackerte, weil wir immer ein bisschen verklemmter sind als die körperlich offenherzigen Hauptstädter.

Beim Gedanken an diese fallen einem auch immer wieder die von Elizabeth T. Spira in genialer Art und Weise porträtierten Alltagsgeschichten-Protagonisten ein, über die wir in der Provinz uns mit den Worten „So was is halt typisch Wien, des gibt’s bei uns nit“ lustig machen. In Wahrheit haben wir hier nicht nur ein alterndes und baufälliges Schloss(hotel) am Wörthersee, sondern auch viele kleine „Gourmet-Tempel“, die oft Vornamen von zeitgenössischen oder ehemaligen Besitzern als Lokal-Bezeichnung gewählt haben (Cafe Helga, Rudi’s Kneipe) und außer Alkohol und Zigaretten manchmal auch Toast und (Fertig-)Pizza in ihrem reichhaltigen Sortiment führen. Die unfassbaren Szenen, die sich an den abgewetzten Theken dieser Nobel-Etablissements abspielen, unterscheiden sich von Spira’s preisgekrönter TV-Serie nur dadurch, dass der Kärntner Dialekt im Rest Österreichs besser ankommt. Eine investigative Klagenfurter-Beisl-Reportage wäre unbedingt angebracht, fällt jedoch in Zeiten von Datenschutzgrundverordnungen (ganz nebenbei eine fürchterliche Wortkreation) nicht allzu leicht aus.

Vielleicht ist es auch die Naivität und der mangelnde, zermürbende Großstadt-Alltag, der mich blendet, wenn ich beispielsweise nach Wien komme und alles viel faszinierender und eindrucksvoller finde als in der Lindwurmstadt. So bietet Klagenfurt doch auch sehr viel Reizvolles, um das uns Mitbürger aus anderen Bundesländern beneiden. Wir haben zwar keinen See mitten in der Stadt (wie beispielsweise Zürich oder gefühlt praktisch jede Stadt in der Schweiz), aber zumindest einen See am Rande der Stadt. Und ja, man kann über den Wörthersee denken, was man will, vom High-Society-Moloch über Auffangbecken für E- bis J-Promis bis hin zum gnadenlos verbauten Seeufer. Aber eines bleibt doch: er ist schön, er ist natürlich (also kein Baggerteich) und ein sommerlicher „Dip-In“ nach getaner Tat hat schon was.
Zusätzlich ist Klagenfurt aufgrund seines kleinen Stadtkerns auch recht übersichtlich und man muss ja nicht täglich an die Ränder der Stadt (mit Ausnahme des westlichen Randes, weil: See). Außerdem ist man (im Vergleich zu den Anfahrtsstrecken aus anderen Landeshauptstädten) in kurzer Zeit in Ljubljana oder Triest, ein Aspekt, den ich im Gespräch mit Gästen aus anderen Bundesländern immer gerne einwerfe.

Nichtsdestotrotz ist mein Wohnort die wohl dörflichste aller „Großstädte“, die ich bislang kennengelernt habe. Wenngleich auch Klagenfurt einige sehenswerte Gebäude, kulturelle Hotspots und lässige Querdenker hat, so kann es seinen Mangel an jeder Urbanität nicht leugnen. Dennoch: auch in der Provinz lebt es sich gut, das Jammern findet auf ausgesprochen hohem Niveau statt, und in einem Kleinstaat wie Österreich sind die Wege, um aus dem provinziellen Umfeld auszubrechen, ja nicht allzu weit.
Ein Gedanke zu „Klagifornia oder CeLOVEc – eine Annäherung an die kleinste Großstadt der Welt“