Wir schreiben (noch) das Jahr 2018. Menschen sind, wie eigentlich schon immer, auf der Suche. Mit dem Unterschied, dass die Suche Konsum beinhält, süchtig macht und vor allem auf das Bedürfnis abzielt, sich von allen anderen Mitsuchenden zu unterscheiden. Dies führt zum Boom von Vintage-Flohmärkten, dazu, dass man Musik wieder vermehrt auf Vinyls presst (by the way: wann kommt eigentlich das Revival der Audiokassette?) und sich sein alltäglich verwendetes Frühstückshäferl umrahmt von entspannender Yoga-Musik selbst töpfert. Nicht Konformität, nein INDIVIDUALITÄT ist der heilige Gral unserer zeitgenössischen Gesellschaft. Outfits und Erscheinungsbilder sind, genauso wie Wohnungen, Wandtapeten oder Blumenübertöpfe darauf ausgerichtet, dem Betrachter zu signalisieren, wie besonders, anders und individuell der Geschmack des Besitzers doch ist.
Diese Individualität, die viele wie eine Monstranz regelmäßig durchs Dorf tragen, geht natürlich auch unter die Haut. Lieblingstiere, Urlaubsorte, asiatische Schriftzeichen (als ob die Träger wüssten, ob Japanisch oder Mandarin) oder Baby-Gesichter (die oft aussehen wie Chucky, die Mörderpuppe). Der Freiheit der Kunst sind wie immer keine Grenzen gesetzt. Mit dem Unterschied, dass man ein Bild wieder abhängen kann, wenn es scheußlich aussieht oder nicht mehr zur Wand passt. Ein Tatoo ist da um einiges nachhaltiger. Und so gräbt man immer tiefer in der eigenen Seele, immer auf der Suche nach grenzgenialen Ideen, die noch kein Hipster vom 7. Wiener Gemeindebezirk bis Berlin-Kreuzberg jemals hatte, nur um der Einzigartigste der Einzigartigen zu sein.
Ich bin, zumindest in dieser Angelegenheit, eher der Spießer der Nation, der dem Biertrinker im Feinrippunterhemd wesentlich näher ist als dem Zombie Boy. Ich suche nicht nach Motiven für Skalp und Haut.
Auch will ich keinesfalls zu jenen Spezialisten gehören, deren einzige Antwort auf die Frage, was denn am Drachen mit drei Köpfen und Skorpion-Stachel am Schwanz so toll sei, „sieht halt geil aus“ lautet. Mir erschließt sich bei dieser Aussage selten der tiefere Sinn der nachhaltigen Hautbemalung.
Nun behauptet so mancher „Inked-Boy“ (oder so manches „Inked-Girl“), dass es selten bei einem Tattoo bleibt, weil der ganze Prozess doch „süchtig“ macht. Dieses angesprochene Suchtpotenzial erschließt sich mir, dem alten Hyper-Realisten, jedoch kaum. Wie kann man von etwas süchtig werden, das ständig sticht und wehtut. Mindestens fünfzehn Jahre seines Lebens schreit man als Heranwachsender auch nur beim bloßen Anblick von spitzen Nadeln wie am Spieß – und dann das! Wollen die Menschen nur ihre kindliche Angst vor jeder Art von spitzen Nadeln überwinden? Stellen Körperbemalungen demzufolge das ultimative Coming-Of-Age-Erlebnis dar? Ist Schmerz meditativ? Oder gehört es in der heutigen, ach so individuellen Hipster-Welt schon zum guten Ton, sich zumindest das eine oder andere Tribal hinters Ohrläppchen zu knallen?
Ich meinerseits wüsste gar kein Motiv, kein Sprichwort oder keinen Bestandteil der weltlichen Fauna und Flora, der mir so wichtig wäre, dass ich ihn mir für immer unter die Haut nageln würde. Mit jedem Tag, an dem ich neue Dinge erfahre, ändern sich Meinungen, Weltanschauungen und Vorlieben. Und auch wenn vor einigen Jahren der Gedanke an ein Tattoo als recht attraktiv erschien (wie praktisch alles, was den Eltern zuwider war), denke ich mir heute, dass zumindest Individualität kein Motiv mehr dafür ist, sich unter die Nadel zu legen. Körperbemalungen sind absolut schon zum Massenphänomen geworden. Ich bleibe also unbemalt (nicht unbefleckt) und lebe so auch ganz gut. Und auch für die Suchtmomente im Leben hole ich mir Dinge, nach denen ich nicht einzelne Hautstellen desinfizieren und bedecken muss. Nennt mich spießig, aber: Weniger ist (zumindest in dem Fall) für mich mehr!