Briefe vom Katzentisch

Die Pionierleistung, oder: Zu Besuch bei den Scherenhänden

Ohrenschmaus statt Lesegraus: der Text als Hörspiel, gelesen von mir persönlich

Social Distancing oder die Entfernung von seinesgleichen liegt ja, dessen sind wir uns mittlerweile bewusst, nicht in der Natur des Menschen. Höchst natürlich ist jedoch bei vielen – außer bei meisterproperesken Glatzenträgern – der Haarwuchs. Mit steigendem Lebensalter sprießen uns die Hornfäden aus allem, was am und im Körper offen ist. Brauchen Körperhaarentfernungen zumindest vorübergehend kein geschultes Personal, so ist das bei unserem Haupthaar anders. Friseure steigern das Wohlbefinden und versorgen uns mit Glamour, Glanz und Gloria. Nach hunderten Tagen im Lockdown ohne „körpernahe Dienstleistungen“ (eine herrliche Wortkreation, die uns die österreichische Beamtensprache da aufs Papier gezimmert hat) sehen viele Zeitgenossen aus wie Carlos Valderrama in besten Jahren und stehen am Beginn der kurzen, aber harten Straße der Verwahrlosung.

Dementsprechend liegen die Nerven an den diversen Teststraßen der Hoffnung blank, Telefone in Apotheken laufen heiß. Der Gang zum Coiffeur erscheint aufgrund des Terminmangelns so fern wie die Kreuzfahrt im östlichen Mittelmeer. Menschen taumeln durch die Gegend, wütend blasen sie sich das lange Deckhaar von den Augen, um nicht minütlich über Hydranten, Mülleimer oder Desinfektionsmittelspender zu stolpern. Ich hingegen habe die Eintrittskarte in den Stylinghimmel durch meine Anmeldung zum Antigentest bereits letzte Woche gelöst. Status: keine Virenschleuder. Auf zum Haarschneider, adieu Gammler-Look! 

Das kolumbianische Haarmodel Carlos Valderrama in besten Jahren

Dann der Schreck: Kein einziger zahlender Gast auf den verschlissenen Kunstlederstühlen. Kein lautes Pfeifen der Trockenhaube. Nicht mal das dentale Surren des Haartrimmers ist zu vernehmen. Dank der Eintrittskarte ins Scherenglück auf meinem Smartphoneknochen werde ich sogleich zu einem der zahlreichen freien Stühle geleitet. Gekonnt serviert man mir frisch gebrühten Kaffee, fein säuberlich zerteilte Tomatenachtel und Gurkenscheibenviertel und sämige Teebutter, dazu einen duftenden Backaldrin-Kornspitz. Zusätzlich ein hauchdünnes Wurstblatt am Teller, das sich sonst zu seinen Artgenossen an den Hinterköpfen teilkahler Mittvierziger gesellt. Diese Genüsse lassen einen an gastronomische Erlebnisse in einem Land vor unserer Zeit erinnern. Im Altertum nannte man sie „Frühstück“. In der Neuzeit setzte sich jedoch der Anglizismus „Brunch“ durch, wenngleich sich diese Art der Nahrungsaufnahme eher am späteren Vormittag zugetragen und oftmals sogar das Läuten der Mittagsglocken der Pfarrkirche St. Philippus in Tihoja überdauert haben soll.

Freudig und präzise schwingt die Scherenkünstlerin ihre Haarseziermesser. Wenngleich ich eher zum Typ „Schneiden, aber bitte lautlos!“ gehöre, empfinde ich heute Freude am belanglosen Schäkern unter der weißen Maske. Ich denke sowieso, dass körpernahe Dienstleister auch die Seele versorgen. Ältere Semester sehen im Physiotherapeuten oft die einzige Möglichkeit zum interaktiven, zwischenmenschlichen Rede-Antwort-Spiel. Dieses fällt ob des Redebedarfs eher zugunsten der Patienten aus. 

Die Schererei dauert heute länger als sonst. Ohne finanziellen Mehraufwand werden schwarze Augenbrauen gezupft und weiße Ohrhaare gerupft. Besonders letzteres erscheint jedoch genauso wenig nachhaltig wie der Kampf gegen Windmühlen. „Passt die Länge oben?“ „Gerne noch ein bisschen mehr weg, nächste Woche seid ihr ja vielleicht wegen Mutationen aus Südossetien, Vanuatu oder Zell am Ziller wieder zum Zusperren verdammt!“ Ich ernte böse Blicke des schneidenden und föhnenden Personals.

Als ich mit dem vollkommen legalen Haarschnitt das Geschäft verlasse fühle ich mich als rechtschaffender, österreichischer Staatsbürger, als braver „Jedermann“. Ich gehöre nicht zu den Kriminellen, die laut einschlägigen Medienberichten einen „Schwarzschnitt“ bekommen haben, denke ich mir, während ich darüber sinniere, dass „Schwarzschnitt“ auch ein lässiger Name für einen Frisiersalon wäre. Aber spätestens seit ich schillernde Kreationen wie „Hairgott“, „GmbHaar“ oder „Alibarber“ gelesen habe, weiß ich, das man hier auf mein kreatives Potenzial verzichten kann. Frisch geföhnt, das Schnitthaar rausgespült, dezente Pomade am Schädel, fühle ich mich wie Jesus am Ostersonntag: voller Tatendrang, Stein weggerollt und mal ordentlich in die Hände gespuckt. Die Verwahrlosung 2.0 konnte vorerst gestoppt werden. Erst der Gang in die Selbstisolation holt mich auf den bitteren Boden der Tatsachen zurück. Genauso wie die Tatsache, dass die bunten Köstlichkeiten im Frisiersalon unangetastet geblieben sind. Keine Infektion, keine Adipositas, dank FFP2-Maske und doppeltem Meterabstand. Die Maßnahmen zeigen also Wirkung – so oder so. 

Fotos: Pixabay, Wikimedia Commons

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