Briefe vom Katzentisch

Der stille Held am Tag des Herrn

Der Text, synchronisiert von Ihrem persönlichen Vorleser

Sonntagmorgen und herrlich englisches Wetter: Regen und scheißkalt. Viele Menschen werden mich heute nicht grüßen, denke ich mir. Ich packe meinen Trenchcoat, der Regenschirm ist gespannt und durchschreite die Türschwelle. Nicht umsonst sind Sonntagszeitungen umfangreicher. Sie sind genau für Tage wie diesen gemacht. Kritiker möchten zwar mokieren, dass dies nur an den an Sonntagen doch inflationär platzierten Werbeeinschaltungen für finanzstarke Unternehmen wie Möbelhäuser, Supermarkt-Multis oder Automobilhersteller liegt. Ich denke mir aber, man will, dass Menschen einmal in der Woche endlich lesen. Trotz allem glaube ich an das Gute. 437 Schritte sind es bis zum Helden des Sonntags. Noch besser als der Regenschirm mein Haupt, schützt der stumme Verkäufer die Yellowpress, ob mit oder ohne Illustrierte, vor dem zerstörerischen Nass von oben. 

Unaufmerksam krame ich in meiner Hosentasche. Der Plastik-Kubus ober dem Entnahmefach sagt mir „1,50 Euro – Vielen Dank“. Im Zeitalter von Near Field Communication und Apple Pay ist mein Hosensack natürlich leer wie Fußballstadien in Pandemietagen. Was nun? Ich stehe kurz vor einer der Straftaten, die in Österreich noch häufiger als Falschparken, Geschwindigkeitsübertretungen und Wiederbetätigung vorkommen. Ich gebe mir einen Ruck und sage mir: „Heute ist es so weit. Heute stehle auch ich die Sonntagskrone!“ Wenn die Faust der Justiz dieses Verbrechen mit dem Tod bestrafen würde, hätte das Land mit einem Schlag eine Bevölkerung, die nur noch aus Kindern und Bettlägerigen bestehen würde. Mit Argumenten wie jenem, dass das Blatt sowieso die 1,50 Euro nicht wert sei, rede ich mir mein Verbrechen schön. Engerl und Teuferl bauen sich imaginär links und rechts vom Kopf auf, während meine Hand, die Richtung Zeitungsständer greift, schon vom Regen benetzt wird. Die gute Seite der Macht beruft sich auf das dritte österreichische Grundgesetz nach Alfred Dorfer: „Do kennt jo a jeder kumman!“ (Die ersten beiden sind übrigens „das ist nit so“ und „das war nie so“). Ich denke an Michael Jeanee, der einsam und hungernd in seiner kalten Garconniere sitzt und wütend die Zeitungslangfinger verflucht, die seine Briefe nicht wertschätzen. Teuferl sagt mir, dass das dem Hetzer recht geschehe. Außerdem ist das das Bilderbuch mit Geschichten, das so heißt wie das Land, auch meistens gratis und umsonst noch dazu. 

Ein Wahrzeichen der österreichischen Sonntagsruhe: der stumme Verkäufer

Ich entscheide mich für die österreichischste aller Lösungen und werfe 50 Cent durch den Schlitz. Um Kiebitzen aus der nahen Entfernung, die mich als Räuber entlarven könnten, den Wind aus den Flügeln zu nehmen täusche ich einen dezenten Griff in die Jackentasche vor. Die gähnende Leere darin stört mich nicht. Anschließend werde ich zum König des vorgetäuschten Münzeinwurfs. Kein Mensch ist nahe genug, um das nicht stattfindende Klimpern zu Ohren zu bekommen. Die Zeitung wird gezupft, der Raubzug geht zu Ende. Und der Kaufvertrag ist rechtlich gesehen nicht zustande gekommen. Wie verwegen ich doch bin. Erfüllt von Selbsthass und krimineller Energie ziehe ich von dannen und lege meine Beute stolz auf den reich gedeckten Frühstückstisch. Ebendieser bleibt den Redakteuren von Sonntagsblättern auf kurz oder lang verwehrt, wenn es alle so machen. Oder zumindest der des Extrablattspediteurs.

Das Lokalradio plätschert vor sich hin, die Themen werden immer regionaler. Von Landesebene zu Bezirksebene, von Bezirksebene zu Gemeindeebene. Irgendwann werden sie uns die Anzahl der Stunden im Tiefschlaf von Susi Maier aus Patergassen durchgeben. Doch dann die Botschaft des Grauens: Der eiserne Vertreter der guten Laune berichtet über einen Diebstahl an stummen Verkäufern in Unterkärnten. Mehrere News-Keeper wurden brutalst geplündert, der Täter dürfte sich mit einem spitzen Gegenstand, man vermutet mit einem Schraubenzieher, an den zarten Plastikwürfeln vergangen haben. Die Polizei berichtet von einem finanziellen Schaden in Höhe von zumindest 86,23 Euro. Der astronomisch hohe Sachschaden sei zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht zu beziffern. „Wer macht so etwas!“, lautet der allgemeine, kopfschüttelnde Tenor. „Der stumme Verkäufer ist doch der stille Held des Sonntags, des Tags des Herrn!“, plädiere ich lautstark wie ein Zeitungsgewerkschafter mit ehemaliger Ministrantenkarriere. Am Hinterkopf wachsen mir langsam Hörner. Mein Strafdelikt ging wenigstens mit Anstand und Stil vonstatten. Menschen, die Vertrauenskassen aufbrechen, stehlen auch den Leibwächter-Kräuterbitter rechts von der Supermarktkassa. Mit einem Bissen Käsebrot im Schlund blättere ich weiter, während aus dem Radio längst die triste Wetterprognose trällert. Zufällig lande ich auf Seite 7 – endlich ein Lichtblick. 

Die kriminelle Energie ist dem Österreicher im Blut. Manche machen es plump, andere wiederum (wie auch ich) stehlen aus Faulheit. Doch egal ob Zeitungen fladern, Versicherungen betrügen oder Steuern hinterziehen: in den Nadelstreif-Olymp der Langfinger kommt man erst nach der Gründung der ersten Geldwäsche-Stiftung. Mein Gewissen ist beruhigt. Ich schwimme doch weiterhin im Pool des nicht allzu schlechten Gewissens, in dessen Außenhaut immer wieder neue Schlupflöcher auftauchen. Einen schönen Sonntag!

Fotos: Pixabay, GryffindorKrone newspaper Vienna Aug 2006 002CC BY-SA 3.0

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