Ach, Wien, besonders in Pandemiezeiten hat mir dein buntes Treiben nur allzu oft gefehlt. Nur spärlich habe ich dich besucht, deinen Zuckerguss-Pferdemist-Dönerkebab-Aromenmix wahrgenommen. Es gibt ja nicht wenige weit talentiertere Zeilenschinder, die sagen, dass man Orte am besten olfaktorisch einteilt. Napoleon Bonaparte beispielsweise, der gar nicht so kleine große Feldherr aus Korsika betonte stets, er könne seine Heimat, die „Ile de Beauté“, mit verbundenen Augen rein am Duft erkennen. Wie muss sich der selbstbewusste Korse nur gefühlt haben, als er Ende des 18. Jahrhunderts in der damals noch nicht von Reinlichkeit geprägten Wienerstadt mehr hauste als nächtigte. Buttenweiber, Morast und Kot auf den Straßen, elender Gestank: So beschreibt Dirk Stermann in seinem Roman „Der Hammer“ die Donaumetropole im ausgehenden 18. Jahrhundert.
Mittlerweile funktioniert die Abfallentsorgung wesentlich besser und irgendwie begrüßt einen die ach so grantelnde Bundeshauptstadt sogar von den Mistkübeln stets mit spitzbübischer Ironie. Ansagen wie „Ich brauche mehr Input“ oder „Schwarzes Loch sucht Restmaterie“ zaubern zumindest Gelegenheits-Hauptstadt-G’schaftlhubern wie mir ein zartes Lächeln ins Herz und auf die Lippen. Die pulsierenden Öffis eifern den Berliner Verkehrsbetrieben nur kommunikativ nach, hinsichtlich ihrer Performance sind sie ihnen längst überlegen. Am Valentinstag begrüßen einen Anzeigetafeln mit „ein BUSsi für dich“ oder „Ich öffi mein Herz für dich“. Und sogar das leidige C-Thema, das uns seit mittlerweile zwei Jahren begleitet, wird in Kampagnen humorvoll und wunderbar unpeinlich behandelt: „Man bringe den Spritzschein“. Auch findet man nur allzu selten bei Verkehrsbetreibern zusätzlich zum Ticketshop auch einen Fanshop, der im Falle der netzförmigen Hauptverkehrsadern ebenfalls ordentlich Humor beweist. Von der Plüsch-Bim bis zur U-Bahn-Stationsrassel baut man sich die Mini-Kuschel-Remise im trauten Heim nach.

Mir ist klar, für Menschen, die Witze aus der Wortspielhölle nicht wirklich zum Brüllen finden, wird das Leben durch die kleinen Erheiterungen im Alltag nicht wirklich feiner. Vielleicht schaffen es aber auch nahezu nicht aufgesetzt freundliche Servicekräfte in den diversen Restaurationen, von denen sich goldscheffelnde Tiroler und Kärntner Schiwassermagnaten so Einiges abschauen könnten. Die Mär vom grantigen Kellner wird so nicht einmal mehr für Touristen aufrecht erhalten. Mittlerweile verorte ich ehrliche Unfreundlichkeit von Dienstleistungsbeschäftigten eher in Provinzstädten, in denen der Gesichtsausdruck der Menschen jenem ihres drachenartigen Wahrzeichens ähnelt (#Klagifornia – Stern des Südens).
Eine weitere Eigenschaft der Wienerstadt, die mich immer wieder staunen lässt, ist die Diversität ihrer Bezirke auf engem Raum. Verlässt man sein Grätzl und überquert als Teilzeit-Hipster aus dem 7ten beispielsweise den Gürtel, findet man sich in Ottakring in einer völlig anderen Welt wieder – olfaktorisch wie kulturell. Wo sonst in der Alpenrepublik überleben drei anatolische Fast-Food-Dealer nebeneinander mit nahezu identischem Multi-Kulti-Angebot (Kebab, Pizza, Schnitzel)? Wo sonst riecht es gleichzeitig nach Zwiebel, Biermaische und, etwas weiter stadtauswärts aufgrund der nahen Mannerfabrik, dezent süßlich? Downtown Ottakring ist keine Hood für reine Lustwandler, aber ein Ort voller verschiedener Eindrücke.

Bereits genannte Teilzeit-Hipster verbringen ihr Arbeitsleben 24-7 im Co-Working-Loft und ihre spärliche Freizeit in Concept-Stores und Second-Hand-Läden sowie den vielbesungenen „netten Cafès“, in denen keine Sitzgelegenheit der anderen gleicht. Das alles gibt es ums Eck, im Neubau, dem 7. Wiener Gemeindebezirk. Und obwohl ich die Menschen, die oft wirken wie aus einem Schweighöfer-Film, zwiespältig betrachte, wirkt die Gegend beim Schlendern oft wie ein stadtgewordener, vielfältiger Süßigkeitenladen. In den Bezirken 9, 8, 7 und teilweise auch 6 fühle ich mich oft erschlagen von der Buntheit und der Fülle an Möglichkeiten, die einem die Umgebung scheinbar bietet. Jedes Kabuff, das man passiert ist hip as fuck und lockt einen, darin mit Freude zu versumpern. Mit chronischer Genickstarre bewundert man detailreiche Historismusfassaden, die manchmal von absolut konträren Jugenstilelementen förmlich konterkariert werden.

Gleiche Gemeinde, andere Galaxie: Wien, Stammersdorf, dorfbautechnisch wähnt man sich schon eher im Weinviertel oder im angrenzenden Mähren als in der Bundeshauptstadt. Hier offenbart sich, warum Österreich auf der Weltkarte getrost als Insektendung und Wien ganz traditionell als „Weltdorf“ bezeichnet werden kann. Stammersdorf bezeichnet sich sogar selbst gerne als „Dorf in der Stadt“. Premium-Heurige für gelackte SchuhträgerInnen sucht man hier vergeblich. Bretterbuden, die von den auf Faschingsgschnase hinweisenden Reklamen zusammengehalten werden, bieten in Glasvitrinen ihre deftigen Speisen feil. Dazwischen menschelt es vorzüglich und die Dialoge, die mit rhetorischer Brillanz geführt werden, wären sofort gefundenes Futter für TV-Formate wie „Alltagsgeschichten“ oder „Am Schauplatz“. Betritt man in welligen Corona-Zeiten das Etablissement maskiert, vernimmt man am Nebentisch ein verwundertes „Schau wie brav, die tragen sogar die Maskn“. In Transdanubien scheint selbst für den Provinz-Österreicher die Welt noch in Ordnung und die Klischee-Bobos aus Wien 7 sind, verglichen mit den Manfreds und Reinhards aus Wien 21 zwei Parallelen, die sich im Alltag niemals treffen.

Oft sinniere ich vor mich hin und überlege, was aus mir geworden wäre, wäre ich doch nach der Reifeprüfung aus der Kärntner Provinz in die Bundeshauptstadt gegangen. Die philosophische Frage „Was wäre gewesen, wenn …?“ drängt sich in mir auf, obwohl sie mehr als übrig ist, kann man doch die Zeit nicht zurückdrehen und Entscheidungen und die darauf folgenden Kausalitätsketten nicht ungeschehen machen. Vielleicht würde ich die detailliert ausgefeilten Zinshausfassaden, die sich als Via Triumphalis darstellende Ringstraße, die funkelnde Pracht der Secession und die mittelalterlichen Gassen der Inneren Stadt auch nicht mehr so genießen können, wenn Wien für mich nur ein Arbeitsort geworden wäre.

Ehemalige Städte der Monarchie sind, wenn sie nicht von Kriegen oder Naturkatastrophen verwüstet wurden, Paradiese für lustwandelnde Flaneure wie mich, auch wenn sie oft nach jeder Kreuzung angestaubte Grindigkeit an den Tag legen. Doch sogar diese wirkt oft als willkommener Farbtupfer im großstädtischen Kaleidoskop und erweitert die Sinne noch ein Etzerl mehr. Wien, Triest, Lemberg, Tschernowitz oder Temeschwar – alle umweht die selbe Aura, auf allen liegt, mal mehr, mal weniger, die selbe Patina. Wenn Walter Benjamin davon spricht, dass Straßen die Wohnung des Kollektivs sind, dann bin ich hier zu Hause, als bekennender Flaneur, der sich möglichst elegant und mit wachem Blick für die großen und kleinen Details des öffentlichen Lebens darin bewegt. Möge dies so bleiben, auch wenn ich Sehnsuchtsorte wie die Bundeshauptstadt nur von Zeit zu Zeit, aber doch in wohliger Regelmäßigkeit besuche. Denn verlieren nicht auch Sehnsuchtsorte ihren Reiz, wenn sie nicht lustvoll hie und da, sondern suchtvoll oft erwandert werden?
Der Gemischte Satz (oder je nach Tageszeit auch die Melange) der 23 Gemeindebezirke der etwas größeren Stadt an der Donau ist bunt, vielfältig und schön-schiach, grantig-weltoffen und ein Kaleidoskop der Möglichkeiten. Für mich braucht sie keine Trevi-Fontäne, in die ich sinnbefreit Geldstücke werfe, um immer wiederzukehren. Ich werfe ein mit eigener Armmuskulatur zerdrücktes Sechzehnerblech in den Mülleimer, auf dem „Versenk die Wuchtl“ steht, und komme leicht ins Schmunzeln. Und einmal mehr hat sie mich erfreut, die Wienerstadt!